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Posts Tagged ‘von sich auf andere schließen’

Die Kolumne in The Guardian zu diesem Thema wurde in der Reihe „This column will change your life“ (Diese Kolumne wird Ihr Leben verändern) veröffentlicht und löste insbesondere innerhalb der englischsprachigen Blogosphäre einen Buzz zu Ask vs Guess Culture aus.

Ursprünglich wurde die Theorie am 16.01.2007 von Andrea Donderi in einem Forum geäußert. Sie teilt die Menschheit grob gesagt in zwei Verhaltenskategorien ein: die Guess Culture (Erahner-Kultur) und die Ask Culture (Verlanger-Kultur).

Zu den Erahnern gehören diejenigen, die Anfragen an ihre Mitmenschen nicht gleich direkt formulieren, sondern zuerst mit großer Feinfühligkeit vorsondieren und erst dann fragen, wenn sie ziemlich sicher sind, eine positive Antwort zu bekommen, oder unter Umständen sogar so geschickt vorgehen, dass sie ohne Anfrage gleich ein Angebot erhalten. Die Verlanger hingegen reden nicht lange um den heißen Brei herum, sondern legen ihr Ansuchen gerade heraus dar, wobei sie durchaus eine negative Antwort in Betracht ziehen und akzeptieren. Treffen nun die beiden Verhaltensweisen aufeinander, entstehen auf beiden Seiten Verständigungsprobleme. Der Erahner empfindet die unverblümte Anfrage des Verlangers als anmaßend und unverschämt, wagt es aber nicht, Nein zu sagen. Dem Verlanger erscheint das Verhalten des Erahners unverständlich, widersprüchlich und inkonsequent.

Hier eine deutsche Übersetzung davon:

Dies ist ein klassischer Fall von Verlanger-Kultur (Ask Culture) trifft auf Erahner-Kultur (Guess Culture).
In manchen Familien wächst man in der Erwartung auf, dass es in Ordnung ist, alles und jedes zu verlangen, wobei man sich jedoch bewusst ist, dass die Antwort negativ ausfallen kann. Das ist die Verlanger-Kultur.

In der Erahner-Kultur wird vermieden, eine Anfrage in klaren und deutlichen Worten auszudrücken, bis man ziemlich sicher ist, dass die Antwort positiv sein wird. Die Erahner-Kultur beruht auf einem dichten Netz gemeinsamer Erwartungen. Eine Schlüsselkompetenz des Erahners besteht darin, feine Fühler auszustrecken. Wenn man es einigermaßen geschickt anstellt, muss man die Anfrage nicht mal mehr direkt formulieren, sondern bekommt gleich ein Angebot. Doch das Angebot kann aufrichtig oder bloß der Form halber sein. Um herauszufinden, ob man es akzeptieren sollte, sind noch mehr Geschicklichkeit und Feinsinnigkeit erforderlich.

Verschiedene Probleme leiten sich daraus ab. Für einen Erahner […] erscheinen unliebsame Anfragen von Verlangern aufdringlich und unhöflich und er wird sich mit Wahrscheinlichkeit ärgern und sich unbehaglich und manipuliert fühlen.

Einem Verlanger kann das Verhalten eines Erahners unverständlich, widersprüchlich und voll von passiver Aggression erscheinen.

[…] (Ich bin ebenfalls ein Erahner, […]was beispielsweise zum Lesen nuanciert und subtil formulierter Romane wundervoll, für romantische Verabredungen oder Gehaltserhöhungen etc. jedoch weniger großartig ist.)

Es ist nun aber so, dass ein Erahner-Verhalten nur innerhalb einer Untermenge der Erahner funktioniert, das heißt zwischen jenen, die über eine ziemlich spezifische Reihe von gemeinsamen Erwartungen und Signaltechniken verfügen. Je weiter man sich von der eigenen Familie und Freunden und seiner Subkultur entfernt, umso mehr wird man sich das Verhalten eines Verlangers aneignen müssen. Ansonsten wird man sein Leben in einem Nebel sanfter Empörung unter lauter ahnungslosen Mitmenschen verbringen (ohne Mumin-Fans zu nahe treten zu wollen).

Verschiedene Blogger wiesen darauf hin, dass wir manchmal je nach Situation der einen oder der anderen Gruppe angehören. Allerdings wird wohl bei einer Einzelperson wie auch in einer Bevölkerungsgruppe oftmals eine der beiden Verhaltensweise vorherrschen. Während die Verlanger weltweit ziemlich gut zurechtkommen, liegt es meist an den Erahnern, ihre Wünsche und Bedürfnisse klar und deutlich auszudrücken und Nein sagen zu lernen.

Diese Theorie zeigt einmal mehr, wie sehr wir von uns auf andere schließen. Ein derartiges Vorgehen führt indessen unweigerlich zu Vorurteilen, indem wir etwa im Verhalten unserer Mitmenschen Beweggründe zu erkennen glauben, die wir selbst in dieser Situation hegen würden. Dies gilt sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht: Für den Pessimisten ist das Glas seines Mitmenschen halbleer, für den Optimisten wird es halbvoll sein.

In diesem Sinne, versuchen wir im Zweifelsfall möglichst unvoreingenommen den Standpunkt des andern zu begreifen, jedoch ohne blauäugig zu sein.

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